Container

René Markus

Es ist dunkel und kalt und der Boden schwankt unaufhörlich. Durch die winzigen Ritzen an der Containertür dringt kaum frische Luft herein. Er sitzt sehr lange mutlos in einer Ecke. Es ist, als wäre er festgefroren.
Irgendwann – es sind Minuten oder Stunden vergangen – überwindet er die Starre und beginnt in der Dunkelheit hin und her zu laufen. Erst noch recht ziellos, aber bald wird er hungrig. Also sucht er sein Gefängnis nach etwas Essbarem ab. Befühlt die Wände, die Ladung, aber er findet nur Holz, Plastikfolie, Klebeband, Pappe, Styropor, Gummi, Metall. Dann wird er durstig und beginnt erneut zu suchen, versucht kleinste Lachen, einzelne Tröpfchen zu finden. Aber es ist wüstentrocken hier drinnen.
Er setzt sich zwischen zwei Kisten, friert unheimlich und erstarrt wieder.
Irgendwann – es ist schon lange weder Tag noch Nacht gewesen – gerät alles noch stärker in Bewegung. Er hält sich eilig an einer Kiste fest. Hört ängstlich zu, wie der Sturm um den Container faucht. Hört Wellen brechen, Wasser klatschen und spritzen.
Als sich das Schiff wieder beruhigt hat, zanken sich draußen die Möwen. Er hört ihre Schreie, ihr Wimmern. Er ist durstig und hungrig wie nie zuvor. Er würde jetzt alles, wirklich alles … Er stöbert noch einmal in den hintersten Kisten. Aber er findet nur noch mehr Styropor und stinkendes Plastik.
Als das Schwanken gänzlich aufgehört hat, sitzt er ganz ruhig da. Denkt er an die Lavendelfelder, die Orte seiner Kindheit, Orte der Wärme und Ruhe? Fragt er sich, warum er auf den Lkw geklettert ist, der doch nur Verderben bedeuten konnte? Spürt er die Enden, die Ränder seines Körpers, den Saum? Hofft er noch?
Bald hört er, dass es nah und fern immer wieder rummst und scheppert. Schließlich wankt der Container erneut, aber anders als zuvor. Er spürt, dass es hinauf geht und bald wieder hinunter. Er sitzt nun an der Tür und kratzt am Metall, hämmert dagegen, weiß, dass die Kraft ihn bald verlassen haben wird.
Als die Tür Stunden später endlich geöffnet und der Container entladen wird, hört niemand das Knacken und Knirschen des Chitins. Und niemand sieht, wie schön die Lichter des Hafens darauf widerglänzen


Februar 2025

René Markus

Online doch noch eine kurze Brücken-Diskussion: In einer Kommentarspalte schreibt einer jener Untergangsrauner, dass er die Carolabrücke seit dem 11. September täglich als Vorbote dessen sehe, was in diesem Land auf uns zukomme. Ich recherchiere nach Brückeneinstürzen weltweit, finde heraus, dass allein in den letzten 15 Jahren mehrere Brücken in den USA, einige in China (u. a. 2024 eine Autobahnbrücke) und weitere in anderen Staaten (in Südkorea erst wenige Tage zuvor) eingestürzt sind, sende dem virtuellen Gegenüber eine Liste zu, die diese Ereignisse verzeichnet, und frage, ob er daraus auch die Zukunft der anderen Staaten hervororakeln könne. Eine Antwort erhalte ich nicht.


Dresden, September 2024

René Markus

Ich schaue mir, auf der Augustusbrücke stehend, erstmals selbst das Carolabrücken-Debakel an. Der mittlere Teil des Brückenzugs C liegt im Wasser, die dahinführenden Flügel hängen schräg herab. Das Bild ist mir bereits hinlänglich bekannt, aber das unmittelbare Unfassbare verfügt noch immer über eine andere Wirkmacht. Die Szenerie fasst mich an, auch wenn ich die „Untergang des Abendlandes“-Implikationen, mit denen der Einsturz vielerseits aufgeladen wird, nicht gelten lassen möchte.
Die Schauseite der Augustusbrücke ist voller Menschen. Neben mir ein Paar, Mann und Frau, vielleicht Mitte 50. Ich sage etwas zu ihnen, von dem ich weiß, dass es Zustimmung und mehr hervorkitzeln kann. Etwa: Ja, das ist schon heftig. Sie nicken. Er führt aus, dass er sich sehr darüber wundere, dass man da jetzt schweres Gerät auffahren könne. Sonst dürfe dort „wegen unseren grünen Blumenkindern“ nicht mal ein Grashalm umgeknickt werden. Ich denke sofort an die Filmnächte, deren nicht eben kleine Bühne da, wo jetzt die Bagger stehen, Jahr für Jahr aufgebaut wird. (An das schwere Case, das mir vor Jahren, als ich die Bühne für Die Ärzte mit aufbaute, auf den Fuß gekippt ist, was meinen Zehennagel noch heute etwas unschön aussehen lässt.) Denke an die belebten Wiesen im Sommer, wenn gespielt, gegrillt, getrunken, geliebt wird. Frage mich ganz ernsthaft, die Entfaltung welcher Fantasie die Blumenkinder mit ihrem Kampf um jeden Grashalm verhindern. Überlege, ihn danach zu fragen. Und denke schnell an all die ähnlich initiierten und zu endlosen Diskussionen auswuchernden Gespräche mit Verwandten, Bekannten und Unbekannten in den letzten Monaten und Jahren, an Furor, Selbstgerechtigkeit, Sturheit, Verletzungen – und entscheide mich, müde von all dem, dafür, nichts zu erwidern. Er kommt dennoch in Fahrt. (Ich hätte nicht zündeln sollen. Habe ich das? Habe ich nicht nur ein winziges schwach glimmendes Stöckchen in ein brennendes Haus geworfen?) Er sei lange auf dem Bau gewesen. Verstehe nicht, warum die dort mit diesen Spielzeug-Baggern anrückten. Da müsse man ganz andere Kaliber auffahren. In China würde man innerhalb weniger Tage, aber hier könne man nicht, dürfe man nicht, die Bürokratie und die Bürohengste, der Baubürgermeister und die Grünen, dort würde die neue Brücke in ein paar Wochen, aber wenn er das hier sehe. Seine Hände kommen mit dem Abwinken kaum hinterher.
Ich habe nicht viel Zutrauen zu seiner grollenden Expertise, verfüge selbst allerdings über gar keine. Ich höre ihm noch eine Weile zu, beiße mir die Zunge taub und verabschiede mich schließlich knapp, aber freundlich von den beiden.

In den folgenden Wochen werden bei Räumarbeiten mehrere Bomben im Flussuntergrund gefunden. Immerhin eine verfügt noch über einen funktionierenden Zünder.


Elbufer Dresden-Neustadt, März 2025

René Markus

Unweit jener Stelle an der Albertbrücke, von der aus ich gestern den Biber beobachten konnte, steht eine Frau mit Kamera. Sie hält die Kamera gesenkt, scheint auf das Display zu schauen. Ihr volles lockiges Haar versteckt ihr Gesicht. Ich spreche sie an, frage, ob sie den Biber fotografiert habe. Sie redet sehr schnell, ist freudig aufgeregt: Sie sei wegen eines Weißstern-Blaukehlchen hier, einer in Sachsen höchst seltenen Vogelart. Die Birdwatching-Community sei regelrecht on fire wegen des Auftauchen des Vogels in Dresden. Vorhin habe sie sogar noch einen anderen Watcher angetroffen. In der Vergangenheit sei sie oft sehr weite Strecken gefahren, um ein Blaukehlchen zu Gesicht zu bekommen, nie habe das geklappt. Und jetzt sei es hier, in ihrer Heimatstadt. Sie zeigt mir ein Foto, auf dem unscharf ein Vogel zu sehen ist, dessen blauer Latz mit weißem Stern sich allerdings deutlich abzeichnet. Ich überlege, ob es einen Zusammenhang zwischen dem Erscheinen des Bibers und dem des Vogels gibt. Immerhin wurde hier ungewöhnlicherweise seit längerem nicht in das Wuchern von Bäumchen und Sträuchern im Uferschlamm eingegriffen. (In recht kurzer Zeit könnte wohl ein Auwäldchen heranwachsen. Allerdings würde es in einem winzigen Bereich die Sicht auf die Altstadt verstellen, was selbstverständlich verhindert werden müsste.)

Wir reden noch etwas über Vogelbeobachtung im Allgemeinen. Auf meine kleinen Triumphe – die Bachstelze, die ich gestern hier mit BirdNET (einer App zur Identifizierung von Vögeln anhand ihrer Stimme) aufgezeichnet habe, Grünspecht und Stieglitz auf dem Elberadweg, Goldammern auf der Boselspitze – geht sie allerdings nicht weiter ein. Ich frage sie nach dem Sprosser, der mich interessiert, seit ich in einer Erzählung Erwin Strittmatters von ihm las. Aber sie räumt ein, dass sie ihn wahrscheinlich nicht von einer Nachtigall unterscheiden könnte. Ein Bekannter habe mal einen in Osteuropa gesichtet, sein Gesang sei wohl weniger aufgeregt als der der Nachtigall gewesen.

Nachdem ich mich verabschiedet habe, sehe ich die Vogelfreundin noch die Wiese hinaufschlurfen. Später – ich bin auf dem Rückweg – sitzt sie auf der Freitreppe unter dem grün patinierten Bogenschützen, der ewig die Sehne spannt, für immer anvisiert, in der Sonne. Ihre Kamera liegt neben ihr. Sie blinzelt ins Licht, ihr Blick wirkt jetzt fast ein wenig leer.


7.4.2025

Elbschreiber

Literarischer Besuch aus Dresden

René Markus

Hamburg liest die Elbe 2025 Illustration von Maria Hüttl
© Maria Hüttl

Die Elbe verbindet Hamburg mit der sächsischen Landeshauptstadt Dresden. Anlässlich des Festivals stellt die Alfred Toepfer Stiftung einem Schriftsteller aus der Partnerstadt eine ­Wohnung in ihrem Elbehaus mit einem Residenzstipendium zur ­Verfügung. Ausgewählt wurde der Autor, Musiker und Lektor René Markus. Er wird die Elbe mit Blick auf den Fluss und den Hamburger Hafen zwei Monate lang literarisch erschließen und das literarische Blog »Elbe Labe Albis« füllen.